Welche Power hat die Tarifpolitik unseres Verbandes eigentlich heute noch? Welche Herausforderungen warten auf uns aktuell? Wo liegen die wichtigsten Handlungsfelder der nächsten Jahre?
Die tarifliche Gestaltungsmacht der Vereinigung Cockpit hat einen ausgezeichneten Ruf. Viele Gespräche mit Vertretern von anderen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Dachorganisationen haben mir das in den vergangenen Monaten vor Augen geführt – trotz unserer durch die Pandemie eingeschränkten Mittel. Mit gerade mal 35 Hauptamtlichen aber hunderten engagierten Ehrenamtlichen hat die VC eine Durchschlagskraft, um die uns viele beneiden.
Die tarifpolitische Macht am Himmel
Das hat nicht den einen großen Grund, sondern ergibt sich aus verschiedenen Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Ein Organisationsgrad, der seinesgleichen sucht und bei den Massengewerkschaften unerreicht bleibt; eine disziplinierte und mitdenkende Mitgliederschaft; die Tatsache, dass wir Schlüsselstellungen in den Airlines einnehmen; und eine hochprofessionelle Bandbreite von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen im haupt- und ehrenamtlichen Bereich.
VC-Visionär Hans-Dieter Gades setztes sich seit der Gründung des Berufsverbandes auch für bessere Arbeitsbedingungen ein.
© Vereinigung Cockpit e.V.
Dabei ist die VC-Tarifpolitik nicht über Nacht zu dem geworden, was sie heute ist. Als reiner Berufsverband gestartet, haben wir unsere Tarifpolitik ursprünglich „outgesourct“ – die damalige Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) hat zu Beginn unsere Interessen vertreten. Als die DAG sich immer mehr der Gewerkschaft für den Öffentlichen Dienst (ÖTV) und dem Bankenverband HBV annäherte – ein Prozess, der letztlich in die Gründung von Verdi mündete – traten auch unsere Differenzen mit dem „Gemischtwarenladen“ DAG immer deutlicher zutage, in dem die Piloten eben auch nur eine Berufsgruppe von vielen waren. Ende 1996 bzw. Anfang 1997 gerät die Partnerschaft in die Krise, als die aus Piloten bestehende Tarifkommission bei der Lufthansa ohne Genehmigung des DAG-Vorstandes zum Arbeitskampf bläst. In der Folge bereiteten die Piloten strategisch ihre Eigenständigkeit vor – drei Jahre später stimmt die Mitgliederversammlung über die Loslösung ab. 1999 endet der Kooperationsvertrag mit der DAG, so dass die deutsche Pilotenschaft mit nie dagewesener Eigenverantwortlichkeit und Selbstbewusstsein ins neue Jahrtausend startet.
Eine eigene Tarifabteilung wird aufgebaut und die deutschen Airlines werden zur Anerkennung der VC als Tarifpartner aufgefordert. Als die Pilotinnen und Piloten 2001 bei der Lufthansa AG Gehaltserhöhungen von 30 % und mehr fordern, wird dem Konzernvorstand klar: Dieser neue Tarifpartner fährt keinen Schmusekurs. Eine Schlichtung unter dem Vorsitz des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher führt schließlich zu einem Abschluss von 26 %, verteilt über drei Jahre zuzüglich einer Leistungskomponente. Diese Durchsetzungsfähigkeit blieb in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht unbemerkt. Seit damals ist der Nimbus der VC als eine der durchsetzungsfähigsten Gewerkschaften des Landes zementiert. Es folgen spannende Jahre, in denen die VC zur Verbandsräson erklärt, dass jede Airline auf deutschem Boden tarifiert werden soll. So wird zum Beispiel mit Fleiß und Beharrlichkeit auch Ryanair tarifiert, obwohl das Management sich im Vorfeld mit extremer Wortwahl gegen Gewerkschaften positioniert hatte.
Das Bessere ist der Feind des Guten
Also alles in bester Ordnung? Nicht ganz. Trotz aller Erfolge gab es natürlich auch Probleme. Die Fliehkräfte im Verband beispielsweise waren nie zu unterschätzen und sind bis heute spürbar. Corona hatte wenig Gutes – doch immerhin hat die Pandemie wie ein Brennglas die Aufmerksamkeit auf einige Hausaufgaben gelenkt, die sich bis heute für uns aufgehäuft haben. Welche sind das?
Häuserkampf vs. übergreifende Zuständigkeiten
Unsere Strukturen sind nach und nach so gewachsen, wie wir sie heute vorfinden. Wann immer eine neue Airline auf der Bildfläche erschien, bemühte sich die VC um die Tarifierung. Wie tat sie das? Indem sie vor Ort eine Tarifkommission bildete und dort bei Null startete. Als VC sind wir satzungsgemäß übergreifend für alle deutschen Cockpits zuständig, doch vor Ort kämpft zunächst jede Belegschaft für sich. Normal? Für uns ja, doch das übliche Tarifgeschäft außerhalb unseres Verbandes arbeitet anders: Da werden in der Regel übergreifende Tarifkommissionen mit branchenweiten Zuständigkeiten gebildet, die auch eine Regelungsbefugnis für neu hinzukommende Unternehmen haben. Nicht so die VC – wir begeben uns mit jedem neuen AOC einzeln in den „Häuserkampf“.
Damit geben wir einen wichtigen Hebel aus der Hand. Beispiel Lufthansa: Die tariflose Gründung von Eurowings Discover a.k.a. Ocean war für uns ein Ärgernis. Gemessen an der Belegschaftsstärke umfasst die Größe von Discover aber deutlich weniger als ein Prozent des Konzerns. Eine übergreifende Tarifkommission, welche für neu gegründete Unternehmen ebenso zuständig ist wie etwa für die Passage, hätte dem Unternehmen mit viel höherer Wahrscheinlichkeit eine Tarifierung abringen können. Denn verweigert sich das Management der Regelung für ein halbes Prozent der Belegschaft, wenn dafür dann der Deal mit den anderen 99,5 % nicht zustande kommt?
Das Beispiel macht deutlich, dass Struktur und Inhalt unbedingt zusammengehören. Wenn wir eine übergreifende Tarifpolitik möchten, brauchen wir auch die geeignete Struktur dafür. Form follows function: Wir müssen immer wieder neu definieren, was wir wollen, und auf dieser Basis die bestmögliche Struktur finden.
Welche Aufgabe hat Tarifpolitik im 21. Jahrhundert?
Gewerkschaften wurden historisch immer wieder mit politisch und ideologisch überfrachteten Erwartungen konfrontiert, die sie nicht erfüllen konnten. Was auch immer gesellschaftspolitisch schief lief – die Gewerkschaften sollten es richten. Tarifpolitik wurde dabei vielfach als Werkzeug gesehen, eine Umverteilung des Reichtums zu bewirken. Dieses historische Erbe lässt sich bis heute beobachten. In Deutschland in milder Form: Die im DGB zusammengefassten Großgewerkschaften entwickeln bis heute Standpunkte weit jenseits der naheliegenden Arbeits- und Wirtschaftspolitik. In anderen Ländern wird es noch deutlicher: Weltweit und auch in einigen europäischen Staaten dürfen Gewerkschaften mitunter zu Generalstreiks aufrufen, was sie zur außerparlamentarischen Opposition macht.
Die Vereinigung Cockpit ist von solchen ideologischen Wurzeln vergleichsweise frei, was dem Umstand geschuldet sein mag, dass die gewerkschaftspolitische Komponente des Verbandes erst spät hinzutrat, als die großen systempolitischen Schlachten zwischen Ost und West geschlagen waren.
Von quantitativer und qualitativer Tarifpolitik
Moderne Tarifpolitik hat heute den Anspruch, eine sachliche und nachvollziehbare Verteilungsfunktion auszuüben. Diese Verteilungsfunktion hat zwei Dimensionen: Eine gegenüber den Unternehmen und eine nach innen. Gegenüber den Unternehmen geht es darum, die erwirtschafteten Gewinne fair und nachvollziehbar zwischen den beiden wichtigsten Stakeholdergruppen aufzuteilen: Den Eigentümern, also bei Aktiengesellschaften den Aktionären, und den Beschäftigten, also zum Beispiel den Pilotinnen und Piloten. Die Idee dahinter ist, dass beide Stakeholder für den erwirtschafteten Gewinn notwendig waren und demnach auch beiden Gruppen ein Anteil am Gewinn zusteht. In Rekordjahren sollte das zu sehr erfreulichen Tarifabschlüssen führen, während in Krisenzeiten die Entbehrungen gemeinsam geschultert werden.
Die andere Verteilungsfunktion ist die innere: Als Verband haben wir darauf zu achten, dass die Schere zwischen den Einkommensgruppen unter unseren Mitgliedern nicht zu groß wird. Die Bandbreite muss Akzeptanz finden. Doch muss es überhaupt eine Schere geben? Kann man nicht einfach sagen: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und nach dieser Logik einen kompromisslos einheitlichen Tarifvertrag für alle Cockpits der Branche anstreben?
Die Praxis hat gezeigt, dass das in Reinform nicht funktioniert. Es müssen immer Differenzierungen nach oben und unten möglich sein. Greifen wir als Beispiel auf die IG Metall zurück: Dort herrscht theoretisch von Kiel bis zum Bodensee ein einheitliches Tarifgefüge. Gleichwohl gab und gibt es immer auch Differenzierungen: In schlechten Jahren konnte zum Beispiel die darbende Schifffahrtindustrie an der Küste die Gehaltsrunden zwischen IG Metall und Nordmetall nicht schultern, so dass Öffnungsklauseln zu Gunsten der gebeutelten Branche vereinbart wurden. Das ist ein Beispiel für eine Abweichung nach unten. Allerdings achtet die IG Metall auch darauf, dass Unternehmen, in denen Rekordgewinne eingefahren werden, mehr abgeben, als der Flächentarif vorsieht. Das ist dann die Abweichung nach oben.
Bezogen auf die Luftfahrt bedeutet das: Wenn eine Airline in einem Jahr besonders gut verdient, ist es unsere tarifpolitische Verantwortung, für eine überdurchschnittliche Vergütung der Pilotinnen und Piloten dieses Luftfahrtunternehmens zu sorgen – ansonsten ist das Geld nämlich einfach weg. Wenn umgekehrt ein Unternehmen nachweislich ins Schlingern gerät, werden wir nicht darum herum kommen, tarifpolitisch temporäre Abweichungen nach unten zuzulassen.
Neben der eminent wichtigen Verteilungsfunktion, die bei uns unter dem Stichwort „Quantitative Tarifpolitik“ firmiert, gibt es noch die „Qualitative Tarifpolitik“. Die Qualitative Tarifpolitik denkt weniger über Geld nach, sondern vielmehr über gute Arbeitsbedingungen, wie wir sie zum Beispiel aus unseren Manteltarifverträgen kennen. Ist unsere Arbeit zum Beispiel gut mit unseren Bedürfnissen kombinierbar, die sich aus Freizeit und Familie ergeben? Berücksichtigen unsere Einsatzzeiten unsere gesundheitlichen Bedürfnisse über verschiedene Lebensphasen hinweg? Es liegt auf der Hand, das eine wirksame und moderne Tarifpolitik quantitative und qualitative Themen gleichermaßen aufnehmen muss.
Tariftagung im Februar 2020. Im Rahmen der nächsten Tariftagung im November 2021 steht u.A. die Weiterentwicklung der tarifpolitischen Workshops im Rahmen des Projektes #VCNextGen auf der Tagesordnung.
© Vereinigung Cockpit e.V.
Ein ganz besonderes Uhrwerk
Daneben fällt immer wieder auf, dass unsere vielen Gremien, hauptamtlichen Abteilungen und Flight-Safety-AGs nicht in allen Fällen so friktionslos zusammenarbeiten und reibungslos ineinandergreifen, wie man es sich wünschen würde. Greifen unsere Tarifkommissionen auf den Sachverstand im eigenen Hause zurück, beziehungsweise kennen sie diesen überhaupt in allen Fällen? Und was tun umgekehrt die AGs dafür, dass ihre Ideen und Vorschläge Gehör finden? Hier können wir immer noch besser werden. Die Vereinigung Cockpit arbeitet wie ein Uhrwerk: Wenn ich meine Uhr aufschraube und ein Zahnrädchen herausnehme, läuft die Uhr nicht mehr. Egal, ob es ein großes, mittleres oder kleines Rad war. Deshalb sind alle wichtig und alle leisten einen Beitrag. Unser Ehrgeiz muss nur darin liegen, möglichst reibungslos wie ein Uhrwerk zu arbeiten.
Die wichtigsten To Do’s für die nächsten Jahre
Welche Hausaufgaben ergeben sich aus all dem? Wie wir herausgearbeitet haben, sind die To Do’s teilweise inhaltlicher und teilweise struktureller Natur. Wir brauchen beides.
- Fliehkräfte: Eine einheitlichere, übergreifender koordinierte Tarifpolitik würde helfen, den menschengemachten Zentrifugalkräften entgegen zu wirken, die wir heute im Verband spüren. Gemeinsame Mindeststandards für die Branche zu etablieren, wäre ein guter Anfang.
- Gemeinsames Gremium: Solange unsere Gremien separiert sind, machen wir es den Arbeitgebern allzu leicht, uns mit der berühmten „Möhre“ auseinander zu dividieren. Wie bei einer künstlichen Auktion gehen Flugzeuge an die Airline, welche sich am Markt oder sogar innerhalb von Konzernen am günstigsten unter Wert verkauft. Für den Umgang mit dieser Situation wurden im Verband zuletzt verschiedene Ansätze angedacht, u.a. in den Workshops unseres Projekts #VCNextGen. Diese Ideen werden wir im Rahmen einer Tariftagung mit Teilnehmern aus dem gesamten tarifpolitischen Expertenkreis der VC sowie den Teilnehmern der tarifpolitischen Workshops weiterentwickeln.
- Silos niederreißen: Lasst uns die Kommunikation und den Austausch zwischen den einzelnen Einheiten der VC stärken und die Vernetzung fördern. Wir haben den Anspruch, eine lernende Organisation zu sein. Das geht nur, wenn wir auch nach innen voneinander lernen.
- Verhandlungsmanagement: Unser Verhandlungsstil hat Stärken. So etwa die Affinität unserer Gremienmitglieder zu Verhandlungsschulungen und zu professionellem, externem Rat. Er hat aber auch Schwächen. Zum Beispiel nehmen wir bislang hin, dass wir mit dem Arbeitgeber nicht immer auf Augenhöhe verhandeln: Wir entsenden entscheidungsbefugte Delegationen, die dann in den Verhandlungen auf Mittelsmänner treffen, die ihrerseits nicht entscheiden dürfen. Lasst uns über intelligentere Setups nachdenken!
Wer macht es? Die nächsten Schritte
Es gibt keine Gewerkschaft auf der Welt, in der so weitreichende und umfassende tarifpolitische Veränderungen von einer Person alleine durchgeführt werden. Das ist auch bei der VC nicht anders: Als Vorsitzender Tarifpolitik entwickle ich natürlich strategische Überlegungen und initiiere Handlungsimpulse. Doch schon in der Planung und erst recht in der Umsetzung sind viele Gremien gefragt: Neben dem Vorstand insbesondere die Tarifkommissionen. Auch aus dem Kreis der hauptamtlichen Tarifreferenten gibt es wertvollen Input, ebenso aus dem Beirat und auch die Mitglieder selbst haben uns bei der Befragung im letzten Herbst wertvolle Hinweise geliefert. Dazu hatten wir Erkenntnisgewinne aus zwei großangelegten Tarifworkshops im Kontext von #VCNextGen.
Gemeinsam entscheiden Wir über das Was und das Wie: Was wollen wir angehen? Was passt zum Verband; in die Zeit; zur Situation? Und wie wollen wir es angehen? Wie erhalten wir Bewährtes und entwickeln uns gleichzeitig fort? Wie entwickeln wir heute nachhaltig wirksame Antworten auf Herausforderungen von morgen?
Es bleibt spannend – I’ll keep you posted.