Beispiel: Analyse der Take-Off-Rotation in Bogota
@ Andrew Krasovitckii / Shutterstock, Vereinigung Cockpit
Hollnagel1 (siehe auch den ersten Teil der VC-Info Serie zu Safety II) schreibt hierzu: “Safety II replaces the effort to try to prevent something from going wrong by efforts to ensure as far as possible that everything goes well”1.
Beispiel: Analyse der Take-Off-Rotation in Bogota
Ein Beispiel, wo dies gut funktioniert hat, war die Analyse der Take-Off Rotation in Bogota.
Identifizierung eines neuen Risikos: „Height above Threshold after T/O“ teilweise zu niedrig. Fragestellung: Wie kann das sein?
1. Schritt: Finding aus der Safety Assurance: Die Anzahl der identifizierten Events bestätigt das identifizierte Risiko (Konfirmation via Flight Data Monitoring).
2. Schritt: Analyse der Safety-Risks:
- aus der Normalverteilung aller Flüge (hier spielt die Betrachtung der gesamten Flight Ops, also auch T/O außerhalb Bogotas, eine Rolle) zeigte sich, dass T/O-Rotationen öfter zu langsam waren
- Finding: Pitch Rate zu gering (1,8°/sec statt 3°/sec), daraus resultierte, dass bis zu 200 m mehr T/O Runway benötigt werden für T/O
3. Schritt: Find Mitigations:
- ist es möglich das Risiko durch Training der Flightcrews auf ein akzeptables Level zu bekommen?
- In einer Trainingskampagne (auch in Verbindung mit den Untersuchungsergebnissen eines Air France Vorfalls, ebenfalls in Bogota) wurde ein besonderer Focus auf die T/O Rotation auch von den Behörden verlangt (Airbus hat übrigens hierzu im Januar 2021 einen Artikel sowie ein Trainingsvideo veröffentlicht).
- Pitch Rate durch Training auf 2°/sec erhöht, aber immer noch zu gering für Bogota (auch hier wieder Finding aus Safety Assurance Beobachtung des Safety Trends im Routinebetrieb), warum?
- es wurde herausgefunden, dass selbst bei dem von Airbus mustergültigen Stickinput, in 68 Prozent der Take-Off Rotationen nicht die gewünschte Pitchrate anlag
- Additional Mitigation: Virtually shorten RWY by 280 m for the takeoff-calculations (added Safety-Margin)
Für Bogota wurde somit eine Kombination aus Safety I und Safety II durchgeführt. Zunächst eine “klassische” Analyse (Safety I) der Outliers of normal safety performance und diese dann über Safety II - looking at everyday performance to manage safety - erweitert. Für beides wurden mehrere Quellen (FDM, Vorfälle, Hersteller-Info) genutzt.
Anhand dieser Information wurde aus einer umfassenden Analyse, sowohl dessen was nicht gut als auch dessen was gut war, eine Lösung erarbeitet. Diese beinhaltete letztendlich auch die zusätzliche Maßnahme die Startbahn virtuell um 280m zu verkürzen, um das gewünschte Sicherheitsniveau zu erreichen.
Beispiel: Analyse von komplexen An- und Abflugverfahren
Ein ähnliches Beispiel führte Nicolaus Dmoch (NetJets) in seinem Vortrag auf. NetJets fliegt viele kleinere Flughäfen in, oder in der Nähe von, Großstädten in hochfrequentiertem Luftraum an. Die An- und Abflugverfahren sind hier oft komplex und führen durch diverse Lufträume mit entsprechenden Beschränkungen (Geschwindigkeits- und/oder Höhenbeschränkungen). Über Analyse der Flugdaten, sowie Auswertung von Flight-Reports, wurde untersucht was die jeweiligen Besatzungen getan oder nicht getan hatten, um die entsprechenden An-/Abflugprofile möglichst optimal abzufliegen. Der Fokus lag hierbei auf Crews, die entsprechende Profile erfolgreich (also ohne ein negatives Resultat, wie z.B. einen Level Bust oder eine Noise Violation) abgeflogen hatten, statt nur die Fälle zu betrachten, in denen etwas schief gegangen war.
Hieraus wurden „Best-Practice-Empfehlungen“, z.B. Dokumentation für die Crew, Approach-/Departure Briefing, Grad der Nutzung der Automation – insbesondere auch ob manual-flight oder Autopilot (wenn Autopilot - welche Modi für welche Situation sinnvoll) erarbeitet und entsprechend trainiert.
Aus dieser Erfahrung heraus sieht Dmoch in Safety II großes Potenzial, aber momentan noch einige Herausforderungen, für eine Implementierung von Safety II im Flugbetrieb. Einige dieser Herausforderungen sind:
- Regulatorische Anforderungen
- Die EU-Anforderungen für Mandatory Safety Reports fokussieren hauptsächlich auf negative Ereignisse mit negativem Ausgang. Das bedeutet auch, dass die Safety-Abteilungen von Airlines einen großen Teil ihrer Ressourcen auf diesen relativ kleinen Teil der Operation verwenden müssen.
- Berichtssysteme erfassen nur Momentaufnahmen
⟶ hier wünscht sich Dmoch mehr Raum für das Erfassen „positiven Verhaltens“
- Der menschliche Operator
- Jahrzehntelang wurde der Mensch als das schwächste Glied im System dargestellt. Es zeigt sich im Gespräch mit Kollegen, dass es oft schwierig ist, diese Wahrnehmung wieder umzudrehen.
⟶ in Anlehnung an die Erkenntnisse von Prof. Holbrook sieht auch Dmoch den Piloten deutlich öfter als das starke Glied im System, da er in der Lage ist, flexibel auf unerwartete Situationen zu reagieren.
- Vorgaben geben versus den Menschen einschränken
- Ein wichtiger Kompromiss, der hierbei gefunden werden muss, betrifft SOPs. Wie bekommt man es hin, dass einerseits Crews in die Lage versetzt werden, ihre Stärke (die Flexibilität) einzusetzen, ohne dass die wichtigen und sicherheitsrelevanten Vorteile von SOPs nicht verloren gehen?
Wie eine Umsetzung von Safety II in einem großen Flugbetrieb aussehen kann, zeigten J. Kwasny und G. Mouton (American Airlines) in Ihrem Vortrag „A journey to implementing Safety-II in the commercial aviation industry”, auf welchen ich im nächsten Teil der Serie eingehen werde.
Referenzen
1 Hollnagel, E. (2018). Safety II in Practice – Developing the Resilience Potentials. Routlege, New York, NY.
Links im Text (blau):
- Max Butter (LH Flugsicherheitsabteilung - CF): fracf@dlh.de
- Untersuchung Air France Vorfall: https://www.bea.aero/fileadmin/uploads/tx_elydbrapports/BEA2017-0148.en.pdf
- Airbus Safety First Magazine: https://safetyfirst.airbus.com/a-focus-on-the-takeoff-rotation/