Mitgliedermagazin der Vereinigung Cockpit

Teil 2: Soll nichts schiefgehen oder alles gut werden?

Am Ende des ersten Teils unserer Serie zu Safety II hatte ich auf Prof. J. Holbrook von der NASA verwiesen, der bemängelt, dass nicht mehr Energie und Ressourcen in die Untersuchung dessen, was „gut ist“ gesteckt werden, statt in die Untersuchung dessen, was „schlecht war“.

24.02.2021 Flight Safety von Max Scheck

@ Photocreo Michal Bednarek / Shutterstock

D. Schultz und F. Hildrup von der US-amerikanischen Nationalen Behörde für Transportsicherheit (NTSB) gaben in ihrem Vortrag beim Flight Safety Forum zunächst einige Gründe dafür an, warum die NTSB den Fokus auf die Untersuchung dessen, was schlecht war, legt. Erstens ist die NTSB per Definition eine Unfall-Untersuchungsbehörde. Somit liegt der Fokus in der Aufklärung von Unglücksfällen im Transportwesen. Zweitens sind die Ressourcen, insbesondere Manpower, der NTSB sehr limitiert und es können jetzt schon nur die wichtigsten Unfälle/Vorfälle direkt von der NTSB untersucht werden. In der Regel sind dies solche, in denen großer Personen- und/oder Sachschaden entstanden ist und die somit auch im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Für Unfälle/Vorfälle mit geringerem Schaden werden öfter externe Mitarbeiter bzw. die FAA herangezogen. Fälle, „die gut gegangen sind“, werden bisher wenig bis gar nicht untersucht.

Die NTSB ist keine Regulierungsbehörde und der Fokus des NTSB liegt eher darauf, dass das System aus Ereignissen lernt. Gemäß dem Credo der NTSB „Es gibt keine Fehler oder Misserfolge, nur Lektionen“ sehen Schulz und Hildrup jedoch signifikantes Potential durch den Safety II Ansatz die Sicherheit zu erhöhen. 

Die NTSB versucht deshalb auch in letzter Zeit, im Rahmen ihrer Untersuchungen, verstärkt diesen Ansatz zu berücksichtigen. So werden beispielsweise in der Analyse bestimmter Vorfälle nun auch mehr Vergleichsdaten anderer Flüge herangezogen, um zu sehen, was andere Crews eventuell gemacht haben, um zu einem positiveren Ergebnis zu kommen. 

Wie eine solche Analyse in der Praxis aussehen kann, zeigte Max Butter (LH Flugsicherheitsabteilung - CF) in seinem Vortrag beim Flight Safety Forum 2020.

Die Kernaufgabe der Flugsicherheitsabteilung in der täglichen Routine besteht darin, Risiken zu identifizieren und sicherzustellen, dass das Risiko in einem akzeptablen Bereich liegt. Diese Schwerpunkte werden innerhalb eines Safety Management Systems (SMS), das verpflichtend für alle Airlines ist, auch als Safety Risk Management sowie Safety Assurance bezeichnet.

Während bei Safety I diese Tätigkeiten fokussiert waren auf Ausreißer mit besonders hohem Risiko, wendet man sich bei Safety II dem gesamten Flugbetrieb zu und versucht, aus dem beobachteten Muster des Gesamtflugbetriebs Schlüsse für die Entstehung von Risiken zu ziehen. Dabei soll möglichst auch aus positiven Elementen/Erfahrungen innerhalb der Flight Ops gelernt werden.

Die Erkenntnisse werden anschließend im Rahmen der Safety Promotion, ebenfalls ein Element des SMS, an das Management und die Crews verbreitet, um damit das Verhalten und die Entscheidungen positiv zu beeinflussen.  

Beispiel: Analyse der Take-Off-Rotation in Bogota
Beispiel: Analyse der Take-Off-Rotation in Bogota @ Andrew Krasovitckii / Shutterstock, Vereinigung Cockpit

Hollnagel1 (siehe auch den ersten Teil der VC-Info Serie zu Safety II) schreibt hierzu: “Safety II replaces the effort to try to prevent something from going wrong by efforts to ensure as far as possible that everything goes well1.

Beispiel: Analyse der Take-Off-Rotation in Bogota

Ein Beispiel, wo dies gut funktioniert hat, war die Analyse der Take-Off Rotation in Bogota.

Identifizierung eines neuen Risikos: „Height above Threshold after T/O“ teilweise zu niedrig. Fragestellung: Wie kann das sein?

1. Schritt: Finding aus der Safety Assurance: Die Anzahl der identifizierten Events bestätigt das identifizierte Risiko (Konfirmation via Flight Data Monitoring). 

2. Schritt: Analyse der Safety-Risks:

  • aus der Normalverteilung aller Flüge (hier spielt die Betrachtung der gesamten Flight Ops, also auch T/O außerhalb Bogotas, eine Rolle) zeigte sich, dass T/O-Rotationen öfter zu langsam waren 
  • Finding: Pitch Rate zu gering (1,8°/sec statt 3°/sec), daraus resultierte, dass bis zu 200 m mehr T/O Runway benötigt werden für T/O

3. Schritt: Find Mitigations:

  • ist es möglich das Risiko durch Training der Flightcrews auf ein akzeptables Level zu bekommen? 
  • In einer Trainingskampagne (auch in Verbindung mit den Untersuchungsergebnissen eines Air France Vorfalls, ebenfalls in Bogota) wurde ein besonderer Focus auf die T/O Rotation auch von den Behörden verlangt (Airbus hat übrigens hierzu im Januar 2021 einen Artikel sowie ein Trainingsvideo veröffentlicht).
  • Pitch Rate durch Training auf 2°/sec erhöht, aber immer noch zu gering für Bogota (auch hier wieder Finding aus Safety Assurance Beobachtung des Safety Trends im Routinebetrieb), warum?
  • es wurde herausgefunden, dass selbst bei dem von Airbus mustergültigen Stickinput, in 68 Prozent der Take-Off Rotationen nicht die gewünschte Pitchrate anlag 
  • Additional Mitigation: Virtually shorten RWY by 280 m for the takeoff-calculations (added Safety-Margin)

Für Bogota wurde somit eine Kombination aus Safety I und Safety II durchgeführt. Zunächst eine “klassische” Analyse (Safety I) der Outliers of normal safety performance und diese dann über Safety II - looking at everyday performance to manage safety - erweitert. Für beides wurden mehrere Quellen (FDM, Vorfälle, Hersteller-Info) genutzt. 

Anhand dieser Information wurde aus einer umfassenden Analyse, sowohl dessen was nicht gut als auch dessen was gut war, eine Lösung erarbeitet. Diese beinhaltete letztendlich auch die zusätzliche Maßnahme die Startbahn virtuell um 280m zu verkürzen, um das gewünschte Sicherheitsniveau zu erreichen. 

Beispiel: Analyse von komplexen An- und Abflugverfahren

Ein ähnliches Beispiel führte Nicolaus Dmoch (NetJets) in seinem Vortrag auf. NetJets fliegt viele kleinere Flughäfen in, oder in der Nähe von, Großstädten in hochfrequentiertem Luftraum an. Die An- und Abflugverfahren sind hier oft komplex und führen durch diverse Lufträume mit entsprechenden Beschränkungen (Geschwindigkeits- und/oder Höhenbeschränkungen). Über Analyse der Flugdaten, sowie Auswertung von Flight-Reports, wurde untersucht was die jeweiligen Besatzungen getan oder nicht getan hatten, um die entsprechenden An-/Abflugprofile möglichst optimal abzufliegen. Der Fokus lag hierbei auf Crews, die entsprechende Profile erfolgreich (also ohne ein negatives Resultat, wie z.B. einen Level Bust oder eine Noise Violation) abgeflogen hatten, statt nur die Fälle zu betrachten, in denen etwas schief gegangen war.

Hieraus wurden „Best-Practice-Empfehlungen“, z.B. Dokumentation für die Crew, Approach-/Departure Briefing, Grad der Nutzung der Automation – insbesondere auch ob manual-flight oder Autopilot (wenn Autopilot - welche Modi für welche Situation sinnvoll) erarbeitet und entsprechend trainiert. 

Aus dieser Erfahrung heraus sieht Dmoch in Safety II großes Potenzial, aber momentan noch einige Herausforderungen, für eine Implementierung von Safety II im Flugbetrieb. Einige dieser Herausforderungen sind:

  • Regulatorische Anforderungen
    • Die EU-Anforderungen für Mandatory Safety Reports fokussieren hauptsächlich auf negative Ereignisse mit negativem Ausgang. Das bedeutet auch, dass die Safety-Abteilungen von Airlines einen großen Teil ihrer Ressourcen auf diesen relativ kleinen Teil der Operation verwenden müssen.
    • Berichtssysteme erfassen nur Momentaufnahmen

⟶ hier wünscht sich Dmoch mehr Raum für das Erfassen „positiven Verhaltens“

  • Der menschliche Operator
    • Jahrzehntelang wurde der Mensch als das schwächste Glied im System dargestellt. Es zeigt sich im Gespräch mit Kollegen, dass es oft schwierig ist, diese Wahrnehmung wieder umzudrehen.

⟶ in Anlehnung an die Erkenntnisse von Prof. Holbrook sieht auch Dmoch den Piloten deutlich öfter als das starke Glied im System, da er in der Lage ist, flexibel auf unerwartete Situationen zu reagieren.

  • Vorgaben geben versus den Menschen einschränken
    • Ein wichtiger Kompromiss, der hierbei gefunden werden muss, betrifft SOPs. Wie bekommt man es hin, dass einerseits Crews in die Lage versetzt werden, ihre Stärke (die Flexibilität) einzusetzen, ohne dass die wichtigen und sicherheitsrelevanten Vorteile von SOPs nicht verloren gehen?

Wie eine Umsetzung von Safety II in einem großen Flugbetrieb aussehen kann, zeigten J. Kwasny und G. Mouton (American Airlines) in Ihrem Vortrag „A journey to implementing Safety-II in the commercial aviation industry”, auf welchen ich im nächsten Teil der Serie eingehen werde.

Referenzen

1 Hollnagel, E. (2018). Safety II in Practice – Developing the Resilience Potentials. Routlege, New York, NY.

Links im Text (blau):

  1. Max Butter (LH Flugsicherheitsabteilung - CF): fracf@dlh.de
  2. Untersuchung Air France Vorfall: https://www.bea.aero/fileadmin/uploads/tx_elydbrapports/BEA2017-0148.en.pdf
  3. Airbus Safety First Magazine: https://safetyfirst.airbus.com/a-focus-on-the-takeoff-rotation/