Mitgliedermagazin der Vereinigung Cockpit

ALPA Advanced Accident Investigation Course

06.11.2023 Flight Safety von David Streif, AG AAP

Oktober 2023: In der Nacht vom 13. Oktober erreicht mich eine E-Mail der US- Air Line Pilot’s Association (ALPA). Flug Eastern Wings Airlines 576 ist auf dem Weg von Sioux City, Iowa nach Grand Forks, North Dakota bei der Landung von der Bahn abgekommen und verunfallt. Am Steuer: Hans Gruber, ein deutscher Kapitän. Um meine Mithilfe bei der Flugunfalluntersuchung wird gebeten. Ich packe also die nötigste Ausrüstung und begebe mich früh morgens auf den langen Weg nach Grand Forks.

15. Oktober 17.00 LT: Ich finde mich rechtzeitig zum Organizational Meeting des National Transportation Safety Board (NTSB) in einem großen Auditorium ein. Die Stimmung ist angespannt. Der Investigator-in-Charge läutet die Flugunfalluntersuchung offiziell ein und präsentiert erste Fakten sowie die geplante Vorgehensweise. Die Boeing 727 hat nach Touchdown die Bahn nach links verlassen. Zum Zeitpunkt des Unfalls befand sich ein CB direkt über dem Platz. Ich unterschreibe mehrere Dokumente, die mich zur Verschwiegenheit verpflichten und ich werde mehrfach darauf hingewiesen, weder mit Vertretern der Medien noch mit Versicherungen oder Anwälten zu sprechen.

Was sich hier sehr reell anfühlt ist in Wirklichkeit einer von zwei jährlichen Advanced Accident Investigation Kursen der ALPA. Über unsere Mitgliedschaft bei der IFALPA habe ich eine Einladung bekommen, am amerikanischen Kurs teilzunehmen. Über vier Tage wird eine Flugunfalluntersuchung bis ins letzte Detail simuliert und den Teilnehmenden somit ein Einblick in die Gruppen Operations, Structures, Systems und Cockpit Voice Recorder ermöglicht. Das Ziel ist es, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen als mögliche Helfer einer Flugunfalluntersuchung zu schulen. In den USA gibt es die Möglichkeit bei der NTSB den sogenannten „Party Status“ zu beantragen, um an einer Flugunfalluntersuchung teilzunehmen. ALPA beantragt diesen regelmäßig und entsendet geschulte Mitglieder der jeweiligen Airline zusammen mit erfahrenen ALPA-Ingenieuren.

Abbildung 1: David vor "verunfallter" B727 © David Streif

16. Oktober: Früh morgens bei Sonnenaufgang trifft mein fünfköpfiges Team der nächsten drei Tage an der Unfallstelle ein. Der erste Eindruck ist trotz Sonnenaufgang bedrückend. Die Boeing 727 zeigt viele Spuren einer Evakuierung. Wir entdecken bei der ersten Begehung im Cockpit Blut am Kapitäns-Panel sowie eine kaputte Brille und persönliche Gegenstände. Der Eigenschutz und das Buddy System haben absoluten Vorrang. Wir arbeiten immer zu zweit und geben aufeinander Acht.

Unsere Hauptaufgabe ist es, so viele Fakten wie möglich zu sammeln, zu dokumentieren, zu messen und zu fotografieren. Dabei ist es wichtig, uns nicht von einer Spur vorweg leiten zu lassen, sondern den Blick so breit wie möglich auf das Geschehene zu richten. Nichtsdestotrotz gibt es viele interessante Spuren der Runway Excursion. Der Nummer 3 Reifen zum Beispiel hat keine Bremsspur wie die anderen Main Gear Reifen hinterlassen, nachdem das Flugzeug die Bahn nach links verlassen hat. Die hintere Treppe der 727 zeigt Beschädigungen und auch die Rutsche an 1R ist nicht aufgeblasen.

Nun fängt unsere systematische Katalogisierung von Cockpit, Flight Controls und Landing Gear an. Jeder Schalter und jede Anzeige muss genauestens dokumentiert werden. Dies dauert mehrere Stunden und ist sehr mühsam. In Teamarbeit wird gesammelt, protokolliert, gemessen und fotografiert. Auch Monate nachher muss es uns noch möglich sein, etwaige Detailfragen anhand unserer Dokumentation sicher zu beantworten. Erstaunt bin ich, wie schwierig es ist, in einem Satz genau zu beschreiben, was ich aktuell vorfinde.

Durch den unerbittlichen Wind ist es trotz mehrerer Schichten, die ich trage, einfach nur kalt. Wir messen unter anderem die Flap Jack Screws, um nachher feststellen zu können, welches Flap Setting an allen Flaps zur Landung bestand.

In der Zwischenzeit hat sich ein Reporter der lokalen Medien unerlaubt Zugang zur Unfallstelle verschafft und fängt an Fragen zu stellen. Die Rechnung hat er allerdings ohne zwei Teilnehmer der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) gemacht, die ihn sofort in Gewahrsam nehmen und aus dem Sicherheitsbereich eskortieren. Der Reporter ist einer von vielen kleinen Tests, die sich die Ausbilder ausgedacht haben, um uns auf wichtige Punkte hinzuweisen.

Am Nachmittag folgt dann ein Einblick in die Gruppen „Operations“ und „Cockpit Voice Recorder“ (zum Glück im Warmen). Wir hören einen sehr gut nachgestellten Cockpit Voice Recorder und fertigen als Gruppe eine Abschrift an. Wieder liegt das Augenmerk auf kleinsten Details. Für 30 Sekunden Mitschrift brauchen wir am Ende knapp 90 Minuten. Neben allem Gehörten interessiert uns gerade auch, was man nicht hört, z.B. GPWS-Warnungen, die eigentlich hätten generiert werden müssen.  

In „Operations“ gehen wir etliche Dokumente durch. Neben OFP und Loadsheet auch Wetterdaten und Lizenzen. Wir sammeln lediglich Fakten und analysieren diese nicht. Die Field Investigation, die wir üben, konzentriert sich ausschließlich auf Fakten. Erst nach Ende der Faktensammlung folgt die Phase der Analyse, die sich über Monate hinweg erstrecken kann. In jeder Gruppe treffen wir immer wieder auf Diskrepanzen, die weitere Fragen aufwerfen und denen nachgegangen werden muss, nicht immer finden wir eine klare Antwort.

17. Oktober: Wieder an der Unfallstelle lerne ich morgens, wie man ein Site Diagram erstellt, in dem das Trümmerfeld hinter dem Flugzeug und die Schäden am rechten Flügel genauestens dokumentiert werden. Alles, was wir finden, wird mit einer Flagge markiert, aber nicht angefasst.

Abbildung 2: Site Diagram von gefundenen Teilen hinter der B727. © David Streif

Am Nachmittag folgt das Interview des Kapitäns Hans Gruber (Fans von Bruce Willis Action-Filmen wird der Name freuen). Das Interview ist eine sehr sensible Angelegenheit und die Fragen wollen sehr gut vorbereitet sein, um möglichst viele Informationen zu gewinnen. Eine einzige schlecht formulierte Frage könnte dazu führen, dass die befragte Person vorzeitig abriegelt.

Als sehr unangenehm empfinde ich die Katalogisierung der Inhalte der Crewkoffer. Bei diesem Vorgang ist in den USA meist ein ALPA-Mitglied dabei, um im Nachhinein die persönlichen Gegenstände an das betroffene Crewmitglied oder im schlimmsten Fall an Hinterbliebene zurückzuführen.

Am Abend bleibt noch diverses „Bench-Testing“ von Komponenten übrig. Wir beschäftigen uns näher mit dem GPWS und führen Tests an Komponenten des Anti-Skid durch. Hier wird mangels teurem Hersteller-Equipments improvisiert, was für uns als Gruppe hohen Unterhaltungswert hat. Auch Fuel Samples aus Tankwagen und Flugzeugtank werden durch uns auf Kontaminierung untersucht.

Abbildung 3: GPWS Versandfertig fürs "Bench-Testing". © David Streif

Trotz des bedrückenden Gefühls angesichts der Materie, mit der wir uns beschäftigen, ist es doch ein großer Spaß, mit den fast 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern von unterschiedlichen amerikanischen und kanadischen Airlines zusammenzuarbeiten und sich auszutauschen. Alle nehmen motiviert an dem Kurs teil und es entwickelt sich schnell ein guter Group Spirit.

Nun die letzte Frage: Was habe ich hier zu suchen?

In der VC-Arbeitsgruppe Accident Analysis and Prevention (AAP), deren Mitglied ich bin, beschäftigen wir uns mit allem rund um Flugunfälle und Vorkommnisse. Wir pflegen einen Austausch mit der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU), der ein jährliches Treffen in Braunschweig beinhaltet. Als Service für unsere Mitglieder betreut unsere Arbeitsgruppe das VC-Notfalltelefon.

© Vereinigung Cockpit

Über mein Engagement in der AAP hinaus bin ich ebenfalls beim europäischen Dachverband der VC – der European Cockpit Association (ECA) - in der Flight Data Working Group aktiv. Dort sind wir an einer Vielzahl von Projekten mit Bezug zu Flugunfalluntersuchung und Flugdatenschreibern beteiligt, um Piloteninteressen zu vertreten. Hierfür ist eine solide Ausbildung als Hintergrundwissen und Qualifikation essenziell.

Am Ende ist der Kurs dann viel zu schnell vorbei und es bleiben Eindrücke, die mich noch weiter beschäftigen. Ich bin beeindruckt von der Detailtiefe und Arbeit, die seitens der ALPA unter professioneller Federführung von ALPA Senior Staff Engineer Christian Heck in den Kurs gesteckt werden. Die sieben Ausbilder und eine Ausbilderin haben alle langjährige Erfahrung bei der Mithilfe an Flugunfalluntersuchungen, verstehen es gut, ihr Wissen weiterzuvermitteln. Alles zusammen resultiert in einer sehr realistischen Simulation einer Flugunfalluntersuchung.

Vielen Dank für die Einladung und die tolle Erfahrung!