Mitgliedermagazin der Vereinigung Cockpit

Schwere Störung einer B767 der LATAM Cargo

Zwischenbericht der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) veröffentlicht

10.01.2024 Flight Safety von David Streif, AG Accident Analysis & Prevent

Mitte Juni befindet sich eine Boeing 767 um 17:50 UTC aus Amsterdam kommend im Anflug auf Frankfurt. Bei sommerlichen Temperaturen gibt es am Abend Gewitteraktivität im nahen Umfeld des Flughafens. Laut TAF sind die Gewitter zwar erst am späteren Abend zu erwarten, der zur Zeit des Anflugs gültige METAR beinhaltet jedoch bereits Gewitter im Trend. 

Abbildung 1: METAR / TAF für den Ereigniszeitraum, Quelle: BFU

Die Crew bereitet einen ILS-Anflug auf die Runway 25L vor, der CM2 ist Pilot Flying. In 1000 Fuß ist das Flugzeug stabilized und die Landefreigabe erfolgt mit Wind „240/13“.

Soweit dürfte dieses Szenario den meisten von uns bekannt sein. Man versucht an einem sommerlichen Abend mit Gewittertendenz noch rechtzeitig zum Ziel zu kommen, der Feierabend lockt. 

Kurz darauf gibt der Towerlotse ein Windupdate. Der Wind weht nun mit „250/18 Gusting 29“. Die Situation wird rapide dynamisch. Getriggert durch plötzlich einsetzenden Starkregen übernimmt CM1 in 800 Fuß die Kontrolle. Die Sicht verschlechtert sich durch den Regen so stark, dass er am Minimum einen Go-Around einleitet. In diesem Moment ertönt eine Windshear-Warnung. Was daraufhin in den nächsten 120 Sekunden passiert bringt die Boeing 767 an ihre Limits und darüber hinaus. Die Pitch steigt variierend auf +48 Grad. Die Vertical Speed erreicht im Maximum +6000 fpm. An der Spitze der Parabel liegt nur noch eine Indicated Airspeed von 78 Knoten an bei 20.9 Grad Angle of Attack, der Stick Shaker ist aktiviert. Die Crew steigt in 2600 Fuß AGL in das Stall Recovery Procedure ein und schafft es die 767 bis 1500 Fuß AGL abzufangen. Hierfür wird die Pitch auf -15 Grad gedrückt und es liegen kurzzeitig -5500fpm Vertical Speed an.

Nun stabilisiert steigt die 767 zuerst auf 5000 und schließlich auf 9000 Fuß. Es folgen Vektoren für einen ereignislosen zweiten Anflug auf Frankfurt.

Zwei Minuten nach dem Vorfall schreibt die neue ATIS in Frankfurt:

Abbildung 2: Zweiter METAR EDDF, Quelle: BFU

Beim Flugzeug handelt es sich um eine Boeing 767-316ER (BCF), ein Umbau-Frachter der LATAM Cargo. Die Crew ist mit diesem Flugzeug am Vortag bereits von Miami nach Amsterdam geflogen. Das Gewicht in Frankfurt ist mit 120.086kg circa 20 Tonnen unter dem maximal erlaubten Landegewicht.

Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) hat zu diesem Vorfall eine Untersuchung einer „Schweren Störung“ eingeleitet. Eine Schwere Störung gilt als „ein Ereignis beim Betrieb eines Luftfahrzeugs, dessen Umstände darauf hindeuten, dass sich beinahe ein Unfall ereignet hätte“. In der Juni-Ausgabe der BFU Bulletins wurde der Zwischenbericht mit Aktenzeichen BFU23-0502-EX veröffentlicht. Beim Zwischenbericht handelt es sich um die erste Präsentation von bisher gesammelten Fakten. 

Die Faktensammlung basiert auf den aufgezeichneten Flugdaten des Quick Access Recorders (QAR), Radar- und ADS-B Daten der Flugsicherung, Wetterdaten sowie Aussagen der Crew. Diese helfen den Flugunfalluntersuchern dabei, sich ein Bild des Geschehenen zu machen, werfen aber auch häufig viele weitere Fragen auf, die nicht immer abschließend geklärt werden können. Eine Analyse aller gesammelten Fakten erfolgt nun im nächsten Schritt der Flugunfalluntersuchung.

Was ist passiert?

Es sind viele Fragen offen. Diese zum jetzigen Zeitpunkt zu beantworten, wäre reine Spekulation und es gilt den abschließenden Untersuchungsbericht der BFU abzuwarten. Beim Lesen des Zwischenberichts kann man allerdings erahnen, dass nicht viel zur Katastrophe am Frankfurter Flughafen gefehlt hat. Die BFU schreibt in ihrem Zwischenbericht dazu: “Kurz danach verlor die Flugbesatzung zeitweise die Kontrolle über das Luftfahrzeug” . Beim Betrachten des QAR-Readouts fallen die teilweise extremen Werte, wie z.B. die Pitch von +48 Grad im Rahmen des Windshear Escape Maneuvers auf. Das mitveröffentlichte Company Procedure zum Windshear Escape Maneuver beinhaltet den Hinweis, dass die Pitch bei der „intermittent stick shaker“ einsetzt als oberes Limit gilt und eventuell auch gehalten werden muss, um Bodenkontakt zu vermeiden. Eine weitere Note besagt, dass die Pitch Limit Indicators (PLI) nicht überschritten werden dürfen. Diese werden bei der B767 im EADI angezeigt, sobald die Landeklappen ausgefahren werden. Die PLIs haben ein Limit von +30 Grad Pitch, beim Erreichen dieser Pitch wird der Stick Shaker aktiviert. 

Abbildung 3: Pitch Limit Indicator (B747), Quelle: David Streif
Abbildung 4: Windshear Escape Maneuver Procedure des Operators, Quelle: BFU

Was im QAR-Readout leider fehlt sind die Ausschläge der Flight Controls. Eine Pitch von 48 Grad ist im Windshear Escape Maneuver nicht vorgesehen und auch mit Upset Recovery Prinzipien und Energy Management schwer vereinbar. Wie die Situation sich in der Realität allerdings abgespielt hat, lässt sich im Nachhinein nur schwer rekonstruieren. Die Eindrücke der G-Kräfte und Dynamik von dem, was eine Windshear bei starkem Gewitter auch mit einer stattlichen B767 anstellen kann, lässt sich im Simulatortraining nur schwer abbilden. „Surprise“ und „Startle“ wären in diesem Zusammenhang ein zu beleuchtendes Thema. Entsprechend schwierig fällt auch der Ausstieg aus dem Windshear Procedure, um zurück in einen normal und stabilen Flugzustand zu kommen. 
 

Abbildung 5: QAR-Readout, Quelle: BFU

Die zur Verfügung gestellten Wetterdaten beinhalten Wetterradar- und Satellitenbilder, die zeigen, dass zum Zeitpunkt des ersten Anflugs starke Gewitter mit sehr starker Hagel- und Blitzintensität direkt über dem Flughafen präsent waren. Weitere im Anflug hinter der LATAM Cargo gestaffelte Flieger brachen ihren Anflug ebenfalls aufgrund von Windshear-Warnungen ab. Ob es sich im Fall der LATAM Cargo um eine „predictive“ oder „reactive“ Windshear handelte ist im Zwischenbericht nicht erwähnt. 

Abbildung 6: Wetterradar-Komposit-Bild, Quelle: Kachelmannwetter / BFU

Die im Zwischenbericht dargestellten Parameter und Fakten zeichnen ein Bild eines Anflugs, der sehr bemerkenswert abgelaufen ist. Die gesammelten Fakten werden nun in der nächsten Phase der Flugunfalluntersuchung eingehend analysiert und die Auswertung der Ergebnisse und die Feststellung der Ursachen dann abschließend im Untersuchungsbericht zusammengetragen. Dieser enthält in den meisten Fällen auch Sicherheitsempfehlungen zur Verhütung künftiger Unfälle und Störungen. 
 

BFU Bulletins 

Dieser Abschlussbericht, sowie Zwischenberichte werden in den BFU Bulletins veröffentlicht. Die Bulletins sind eine Zusammenstellung von schweren Störungen und Unfällen, die der BFU im jeweiligen Berichtszeitraum angezeigt wurden. Es handelt sich um Ereignisse im In- und Ausland von in Deutschland zugelassenen Flugzeugen wie auch von in- und ausländischen Flugzeugen im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. 

Die BFU Bulletins können über folgenden den Link abonniert werden: 
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