Sanktionsautomatismus oder Arbeit mit Augenmaß? Ein gemeinsamer Austausch zwischen BAF und VC gewährt einen Blick hinter die Kulissen. Ein Gastbeitrag von Frank Köhler, Erster Sachbearbeiter Ordnungwidrigkeiten des Bundesaufsichtsamts für Flugsicherung (BAF), mit einer Einleitung von Wilhelm Stolte, Leiter Flight Safety der VC.
Nach Anfragen von VC-Mitgliedern und der European Cockpit Association zur Beratung im Rahmen von Ordnungswidrigkeitsverfahren hat die VC-Abteilung Flight Safety Kontakt mit dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) aufgenommen und zu einem Austausch zum Thema eingeladen. Die Gespräche auf Leitungs- und Arbeitsebene waren offen, informativ sowie konstruktiv und resultierten in einem Angebot von uns zur näheren Erläuterung der Arbeitsweise des BAF in der VC Info, dem das BAF gerne nachgekommen ist. Ziel des Gastbeitrags ist es:
- zu klären, wie es zu einem Ordnungswidrigkeitsverfahren kommt,
- die Grundlagen der Arbeitsweise des BAF zu verstehen,
- den Schutz von Informationen aus Flight Reports zu verdeutlichen,
- die Einbindung der Just Culture Prinzipien (Redlichkeitskultur) aufzuzeigen und
- auf die Schwerpunkte der beim BAF auflaufenden Verstöße aufmerksam zu machen.
Der Artikel beleuchtet darüber hinaus auch den Ermessensspielraum des BAF, gibt Tipps zur Vermeidung und nimmt juristisch korrekt Stellung zu Ziel und Zweck der Verfahren. Eine juristisch korrekte Beurteilung kann allerdings auch einen gewissen Unterschied zwischen der uns eher geläufigen Human Factors Sicht und der uns weniger geläufigen juristischen Sicht auf Just Culture beinhalten.
Dies ist kaum vermeidbar und auch nicht als Kritik zu verstehen, denn wer sich näher mit dem Thema beschäftigt wird feststellen, dass es viele unterschiedliche Interpretationen von Just Culture gibt – oft eingebettet in Definitionen, deren Inhalt weiterer Definitionen bedürfe (der Beitrag des BAF enthält z.B. die Definition von „grober Fahrlässigkeit“ – anhand derer die eine und richtige Linie zwischen akzeptablem und nicht akzeptablem Verhalten zu ziehen ist weitaus schwieriger, als es den Anschein hat). Das Verständnis dafür ist wichtig für unsere Einordnung der nicht immer eindeutigen Grenzen der Just Culture und des daraus resultierenden Spannungsfeldes. Der Austausch mit dem BAF hat gezeigt, dass sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des BAF dieses Spannungsfeldes durchaus bewusst sind, mit Augenmaß agieren und dabei auch begleitende systemische Faktoren in Betracht ziehen. Die Erfahrungen mit von uns betreuten Verfahren der letzten Jahre bestätigen diese Arbeitsweise.
Bzgl. der unterschiedlichen Interpretation von Just Culture möchten wir auch zukünftig im Austausch mit allen Stakeholdern bleiben, um auf langfristige Sicht ein gemeinsames Verständnis von Just Culture zu erzeugen – um uneindeutige Linien eindeutiger zu machen.
Wilhelm Stolte
Leiter Flight Safety, Vereinigung Cockpit
Gastbeitrag des Bundesaufsichtsamts für Flugsicherung (BAF)
von Frank Köhler
Erster Sachbearbeiter Ordnungwidrigkeiten des BAF
Was löst die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens wegen eines luftverkehrsrechtlichen Verstoßes aus?
Das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) erhält als Aufsichtsbehörde über alle in Deutschland tätigen Flugsicherungsorganisationen Einblick in sämtliche Tagesberichtseinträge der Flugsicherungsdienste, die Sicherheitsrelevanz aufweisen. Die völlig diversen Inhalte dieser Einträge reichen von defekten Rollos in einem Towergebäude (ggf. mit Blendwirkung für Lotsen), über Vogelschlag bis hin zu einem nicht genehmigten Kontrollzonendurchflug eines VFR-Fliegers.
Sämtliche Tagesberichte werden im Referat „Luftraum, Flugverfahren, Recht“ des BAF daraufhin ausgewertet, ob sich aus dem beschriebenen Geschehen ein Anfangsverdacht auf einen luftverkehrsrechtlichen Regelverstoß durch einen Luftfahrzeugführer ergibt. Die Rechtsgrundlage hierfür findet sich im § 63 Nr. 4 Luftverkehrsgesetz.
Sollte sich anhand des Inhalts des Tagesberichtseintrages ein Anfangsverdacht bezüglich einer Gesetzesübertretung durch einen Piloten ergeben, wird in der Regel ein Bußgeldverfahren eingeleitet und die nötigen Beweismittel (Radardaten und Sprechfunkverkehr) werden gesichert.
Bei Verstößen, die bei Gewichtung der Bedeutung des Vorfalls eher in die Rubrik „Bagatelle“ einzuordnen sind, kann aber auch ohne Beweismittelsicherung das Absehen von einem Bußgeldverfahren bestimmt und der entsprechende Tagesbericht ohne weitere Veranlassung zu den Akten gelegt werden.
In den Jahren 2018 bis 2020 wurden durchschnittlich 32,9 Prozent der relevanten Tagesberichtseinträge in solcher Weise behandelt.
An dieser Stelle tritt der für alle Ordnungswidrigkeiten geltende „Opportunitätsgrundsatz“ zu Tage. Dieser besagt, dass die Verfolgungsbehörde im Falle von Ordnungswidrigkeiten nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden kann, ob sie Ermittlungen aufnimmt oder nicht. Wie die oben aufgeführten Zahlen der letzten drei Jahre belegen, macht das BAF tatsächlich von dieser Möglichkeit Gebrauch und leitet nicht wegen jeder geringsten Regelabweichung ein Bußgeldverfahren ein.
© BAF
Luftverkehrsrechtliche Bußgeldverfahren einerseits und Meldungen nach VO (EU) Nr. 376/2014 andererseits
Die Unterschiede in Ziel und Zweck
Die oben dargestellten Bußgeldverfahren verfolgen grundsätzlich sowohl einen spezial-präventiven wie auch einen general-präventiven Ansatz. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wird dem jeweiligen Luftraumnutzer sein Fehlverhalten erneut vor Augen geführt. Er oder sie erhält Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen. Zudem wird der einzelne Luftraumnutzer durch die Sanktionierung eines von ihm verschuldeten Fehlverhaltens angehalten, die Rechtsordnung in Zukunft wieder einzuhalten. In general-präventiver Hinsicht sind die Stärkung des Rechtsbewusstseins sowie die Wiederherstellung des Rechtsfriedens zentrale Ziele. Dass es sich dabei nicht nur um rechtstheoretische Ziele handelt, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BAF, die sich mit fluglärmrelevanten Themen beschäftigen, immer wieder hautnah erfahren. Das ist z.B. dann der Fall, wenn aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger die harte Bestrafung von Piloten verlangen, die beispielsweise ihren Wohnort überflogen haben. Im Einzelfall stellt sich dann meist heraus, dass das Verhalten der Piloten völlig regelkonform war und bereits bei erster Betrachtung erkennbar wird, dass keine Sanktion zu veranlassen ist.
In der Europäischen Union (EU) hat man mit Verabschiedung der Verordnung (EU) Nr. 376/2014 eine Meldepflicht für sicherheitsrelevante Informationen eingeführt. Sie dienen ausschließlich der Verbesserung der Luftverkehrssicherheit, dürfen aber darüber hinaus grundsätzlich nicht zu anderen Zwecken verwandt werden.
Die Einführung der Meldepflicht geht einher mit der Vorgabe, dass entsprechende Ereignisse auch im Sinne der Redlichkeitskultur behandelt werden. Diese Vorgabe richtet sich zunächst an den Arbeitgeber und die Luftfahrtbehörden.
Weiterhin werden nur in absoluten Ausnahmefällen Ereignismeldungen für die Einleitung von Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren herangezogen. Die zuständigen Verfolgungsbehörden haben auf diese Informationen grundsätzlich keinen Zugriff. Damit wird sichergestellt, dass eine Ereignismeldung nur in den von der Verordnung (EU) Nr. 376/2014 vorgesehen Fällen zu einer Sanktionierung führen kann.
Zwei getrennte Rechtskreise mit nur marginalen Schnittmengen
An dieser Stelle kommt die minimale Schnittmenge der beiden Rechtskreise zum Tragen: Liegt auf Seiten eines meldenden Piloten ein luftverkehrsrechtlicher Verstoß vor und wurde dieser vorsätzlich oder unter Aufzeigen eines gravierenden Mangels an beruflicher Verantwortung hinsichtlich der Wahrnehmung der unter den Umständen ersichtlich erforderlichen Sorgfalt (= „grobe Fahrlässigkeit“) begangen, so kann der Inhalt einer nach der EU-VO 376/2014 abgegebenen Meldung ausnahmsweise doch zu Sanktionszwecken herangezogen werden.
Dies kam innerhalb des BAF in den letzten drei Jahren nur einmal vor (Verkehrspilot landete bewusst auf geschlossenem Flugplatz). Eine Meldung nach der EU-VO 376/2014 eines Piloten, die in Deutschland zunächst an das Luftfahrt-Bundesamt zu richten ist, war seit Inkrafttreten der EU-VO 376/2014 kein einziges Mal Grundlage eines Bußgeldverfahrens.
In allen übrigen Fällen sind die Ereignismeldungen für ein Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren gesperrt.
Klar ist jedoch auch, dass ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen einen Piloten bspw. wegen eines von ihm begangenen Rollhaltverstoßes, über den die zuständige Behörde nicht (nur) über seine Meldung, sondern (auch) über einen Tagesberichts-eintrag der zuständigen Flugverkehrskontrollstelle erfahren hat (siehe oben), mit dem Gedanken der Redlichkeitskultur vereinbar ist.
Die Redlichkeitskultur schützt davor, dass der Bericht nicht gegen den Meldenden verwendet wird. Damit ist gewährleistet, dass die Bereitschaft zur Meldung nicht dadurch beeinträchtigt wird, dass befürchtet werden müsste, sich durch die Meldung einer Verfolgung auszusetzen. Die Redlichkeitskultur schützt nicht vor der Einleitung eines Bußgeldverfahrens, nur weil der Fall auch gemeldet wurde. Die Tatsache, dass gemeldet wurde, beeinflusst also grundsätzlich nicht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bußgeldverfahren eingeleitet wird.
Hat auch der Pilot eine Meldung zu dem Ereignis abgegeben, darf diese auch nicht zur Sachverhaltsermittlung herangezogen werden. Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, die Ereignismeldung z.B. durch Beifügung zur Einlassung freiwillig zum Gegenstand des Bußgeldverfahrens zu machen.
Die vier häufigsten Verstöße durch Verkehrspiloten
In der unten stehenden Tabelle sind die für die Verkehrsluftfahrt zahlenmäßig bedeutsamsten Verstoßarten, die entsprechende Anzahl der beim BAF bearbeiteten Verfahren in den Jahren 2018 bis 2020 sowie die Rechtsgrundlagen aufgelistet.
Bei der Betrachtung der Tabelle aus Sicht der Verkehrsfliegerei ist jedoch zu beachten, dass lediglich die Rubriken unter 1. und 2. nahezu ausschließlich Verstöße von Verkehrspiloten darstellen, wohingegen innerhalb der Rubriken 3. und 4. ein gehöriger Anteil der Allgemeinen Luftfahrt zuzuordnen ist.
Der parallel geführten Ahndungsstatistik des BAF kann man entnehmen, dass von den o. a. 1.359 Ermittlungsverfahren 647 eingestellt wurden, was einen Anteil von 47,6 % ausmacht.
Auch diese Zahl ist einerseits Ausfluss des bereits beschriebenen Opportunitätsprinzips. Andererseits zeigt die Tatsache, dass fast die Hälfte der eingeleiteten Ermittlungsverfahren eingestellt wurden, eindeutig, dass die Entscheider im BAF mit Augenmaß vorgehen, sich intensiv mit den Stellungnahmen der Piloten auseinandersetzen und kein „Sanktionsautomatismus“ vorherrscht.
Im Bereich der ComLoss-Vorfälle beträgt die Einstellungsquote im o. a. Zeitraum sogar 73,6 %. Hier weist das BAF jedoch daraufhin, dass diesbezüglich die Betrachtungsweise zukünftig etwas strenger erfolgen kann, da in diesem Zusammenhang aktuell Aspekte der Luftsicherheit und in Einzelfällen hohe Kosten für den Einsatz der Alarmrotte bei der Beurteilung solcher Fälle stärker einbezogen werden.
Daher ergeht auch der Appell an alle Verkehrsluftfahrer, mehr für die Vermeidung des Verlustes der dauernden Hörbereitschaft zu tun, bspw.
- hohe Aufmerksamkeit bei angewiesenen Frequenzwechseln plus regelmäßiges aktives Einchecken auf der neuen Radarfrequenz; Nachfrage bei ATC bei Zweifeln darüber, ob die Radaridentifikation bestätigt wurde
- konsequente Hörbereitschaft auch auf der Guard-Frequenz (es sei denn, das COM2 wird aktuell zwingend für andere Zwecke gebraucht)
- im Zweifel frühere Durchführung eines Radio-Checks, wenn für einen längeren Zeitraum kein ATC-Ruf mehr an den eigenen Flug gerichtet wurde
- verstärkte Achtsamkeit beim Herunterdrehen der Lautstärkeregler, diese umgehend - nach Wegfall des Grundes - wieder auf Normalposition zurückzudrehen
Quelle: BAF, © Vereinigung Cockpit