Mitgliedermagazin der Vereinigung Cockpit

Luftfahrtgeschichte – mitten unter uns

02.04.2024 von Dr. Daniel Schaad, Leiter Flight Safety

© Daniel Schaad

Wenn der eigene Blick manchmal weg vom Smartphone und in achtsamer Schärfe in die alltägliche Umgebung schweift, kann es sein, dass man zuweilen ganz unverhofft eine Entdeckung macht, die einen überrascht und begeistert. Umso mehr, wenn man etwa durch weiterführende Recherchen - dann wieder am Smartphone - interessante Hintergrundinformationen erhält und sich plötzlich ein wenig wie ein „Alltags-Archäologe“ fühlt. Ich habe neulich eine solche Entdeckung gemacht, von der ich berichten möchte, da sie meine Begeisterung für die Luftfahrt und ihre Geschichte einmal mehr entfachen konnte.

Der Fund

Als ich kürzlich bei einem Spaziergang durch meine Heimatstadt Frankfurt den Hauptfriedhof der Mainmetropole durchquerte, fiel mir beim Blick über alte Gräber ein Name auf, den ich als geschichtsinteressierter Luftfahrer schon einmal gehört hatte, aber irgendwie nicht sofort zuordnen konnte: Olaf Bielenstein. Als ich näher an den Grabstein herantrat, stand dort „Pilot im Südatlantik-Postdienst der Lufthansa[...]seit dem 14/15. Febr. 1936 verschollen mit dem Dornier Wal D-ADYS „Tornado“ auf dem Nachtflug von Brasilien nach Gambia“. Mein Interesse war geweckt.

Später erinnerte ich mich daran, woher ich seinen Namen kannte: Ich hatte ihn auf einer Junkers Ju-52 der Deutschen Lufthansa gelesen und zwar auf einem alten Foto aus den 1930er Jahren, als die damalige Lufthansa einige Ihre Flugzeuge nach berühmten Luftfahrern benannte.

Wer war nun also dieser Olaf Bielenstein? Geboren wurde er laut Grabplatte im Jahr 1909 in Oger (heute Ogre) bei Riga, heute Hauptstadt der Republik Lettland, damals noch zum sog. „Gouvernement Livland“ des Russischen Zarenreichs gehörig, wo in jener Zeit recht viele sog. „Deutschbalten“ lebten, denen Bielenstein offensichtlich angehörte. Das Grab im Frankfurter Hauptfriedhof ist eigentlich das seiner Frau Barbara Bielenstein-Bosse, geboren 1910 in Riga, die erst 2008 in Frankfurt verstorben ist und ihren Mann damit um beachtliche 72 Jahre überlebte. Olaf Bielenstein ist der Grabstein „zum Gedenken gewidmet“ da er nicht vor Ort beerdigt wurde, sondern seit seinem Verschwinden auf dem Südatlantikflug am 15. Februar 1936 vermisst wird.

Zuhause angekommen habe ich sofort ein wenig den historischen Kontext recherchiert und war sogleich fasziniert, in welch spannender Epoche der frühen Luftfahrt Kapitän Bielenstein tätig war und wie damals der lange „Ritt“ über den Südatlantik fliegerisch umgesetzt wurde.

Südatlantik-Luftpost in den 1930er Jahren

Nach ersten Versuchen in den 1920er Jahren spielte die Luftpost spätestens im darauffolgenden Jahrzehnt eine wichtige Rolle in der Entwicklung des internationalen Luftverkehrs und die damalige Lufthansa war eine der führenden Fluggesellschaften in diesem Bereich. Die „erste“ Deutsche Lufthansa wurde 1926 als Zusammenschluss der beiden Gesellschaften „Deutscher Aero Lloyd AG“ und „Junkers Luftverkehr AG“ unter dem Namen „Deutsche Luft Hansa AG“ gegründet und begann bald darauf, Luftpostdienste anzubieten.

Eine der bedeutendsten Luftpostrouten mit Flugbooten über den Südatlantik in den 1930er Jahren war die Verbindung zwischen Europa und Südamerika. Die Route verband in der Regel Deutschland oder andere europäische Staaten mit Ländern wie Brasilien oder Argentinien. Eine der frühen Luftpostrouten der Lufthansa führte beispielsweise von Deutschland über Spanien und Westafrika nach Südamerika.

Diese frühen Transatlantikrouten waren bereits damals von großer Bedeutung für den internationalen Handel und die Kommunikation zwischen Europa und Südamerika. Sie ermöglichten es, Post in einigen Tagen statt mehreren Wochen über den Ozean zu transportieren, was einen erheblichen Fortschritt gegenüber den traditionellen Schifffahrtsrouten darstellte.

Im Vergleich zu heute waren die damalige Technologie und die eingesetzten Flugzeuge zu jener Zeit natürlich vergleichsweise primitiv und die Langstrecken-Missionen glichen im stetigen Kampf gegen Wetter und technische Gebrechen oftmals einem Abenteuer. Flüge über den Südatlantik waren somit sehr riskant und erforderten sorgfältige Planung sowie einen nicht unerheblichen Mut der Besatzungen.

Der Gedenkstein für Olaf Bielenstein erinnert daran, wie viel hier für die frühen Flieger auf dem Spiel stand, denn auch er bezahlte wie manch anderer seine fliegerische Pioniertat tragischerweise mit seinem erst 27 Jahre jungen Leben.

Der schicksalhafte Flug

Was ist nun geschehen, an jenem 15. Februar 1936, auf jenem schicksalhaften Flug, der mit einem Dornier „Wal“ (der DO J) die beachtliche Route von Rio de Janeiro über Vitória, Belmonte, Salvador, Recife, Bathurst (heute Banjul), Sevilla und Stuttgart nach Berlin fliegen sollte, aber tragischerweise nie auf der afrikanischen Seite des Ozeans ankam.

Erstaunlicherweise gibt es sogar aus diesen „Kindertagen“ der Luftfahrt einen Unfalluntersuchungsbericht, dessen Kurzform im Internet zum Beispiel auf der Website des „Bureau of Aircraft Accidents Archives (B3A)“, einem Online-Archiv für Flugzeugunfallinformationen zu finden ist. (https://www.baaa-acro.com/crash/crash-dornier-do-j-iif-bos-wal-atlantic-ocean-4-killed)

Dort heißt es:
The crew was performing a mail flight from Rio de Janeiro to Berlin with several intermediate stops. The float plane named 'Tornado' was catapulted from the deck of the German ship named 'Westphalen' in the region of Fernando de Noronha around 18:18 (GMT time) on February 14, 1936. Some 9 hours and 34 minutes later, all communications with the crew were cut. SAR operations were conducted by seven countries but no trace of the aircraft nor the crew was ever found. According to the authorities, the crew was flying at a speed of some 200 km/h and some 3 to 5 metres above the water surface when the accident occurred.
Crew:
FF Olaf Bielenstein,
FF Otto Scheffler,
Bm Wilehlm Wittmann,
Bf Alfred Conrad.

Insbesondere die im Bericht erwähnte Flughöhe von drei bis fünf Metern lässt aufhorchen und mag mit dem Ausnutzen des aerodynamischen Bodeneffekts zusammenhängen, was sich jedoch in meiner Recherche nicht belegen ließ. Es lohnt sich aber, nochmal einen genaueren Blick auf das zum Einsatz gekommene Fluggerät und seinen Betrieb über dem Ozean zu werfen.

„Oceanic Operations“ mit dem Dornier „Wal“

Die Dornier Do J "Wal" war in der Tat ein bemerkenswertes Flugzeug, bzw. ein sog. Flugboot, das in den 1920er und 1930er Jahren eine wichtige Rolle im Luftverkehr spielte, insbesondere auf Langstreckenrouten wie über dem Südatlantik. Die Do J wurde von den Dornier-Werken entwickelt und zunächst aufgrund der Beschränkungen des Versailler Vertrags in Italien als Weiterentwicklung des Vorgängermodells „Do Gs I“ gebaut. Sie war eines der ersten Flugzeuge, das speziell für Langstreckenflüge über Wasser konzipiert war. Spätere Modelle konnten dann auch im Dornier-Stammwerk in Manzell am Bodensee gebaut werden.

Mit ihrer robusten Konstruktion und ihrem großen Reichweitenpotenzial war die Do J "Wal" für damalige Verhältnisse gut für den Einsatz über Ozeanen geeignet und übernahm in einer weiterentwickelten Form als sog. „10 Tonnen Wal“ (auch Do J II genannt) ab den 1930er Jahren regelmäßige Post- und Passagierdienste über den Südatlantik.

Zuvor war der Dornier Wal bei verschiedenen Pionierflügen zum Einsatz gekommen, so z.B. bei Roald Amundsens gescheitertem Versuch im Jahr 1925, mit zwei Do J zum Nordpol zu fliegen, sowie beim erfolgreichen Transatlantikflug 1930 durch den Luftfahrtpionier Wolfgang von Gronau, der 1932 gar eine Weltumrundung über 44000 km mit der Do J durchführte.

Das Flugzeug hatte (in der Version der Do J II mit 10t Startmasse) eine beeindruckende Reichweite von bis zu 3.600 Kilometern und konnte sowohl auf Wasser als auch auf festen Oberflächen landen, was es äußerst vielseitig einsetzbar machte. Der „Wal" war auch für seine vergleichsweise hohe Zuverlässigkeit und seine Fähigkeit bekannt, mit schwierigen Wetterbedingungen umzugehen, was für Flüge über den Südatlantik entscheidend war.

Eine wichtige Voraussetzung für die ab 1934 regelmäßig durchgeführten Südamerika-Postflüge der Lufthansa waren die Katapult-Operationen auf dem offenen Meer. Hierbei landeten die Dornier-Flugboote neben einem Versorgungsschiff mit Katapult und wurden zum Auftanken und Versorgen per Kran an Bord gehoben, um dann anschließend wieder per Katapult von Deck zu starten. 

Eines der ersten Versorgungsschiffe hierfür war die „Westfalen“, die zunächst in der Mitte des Südatlantiks positioniert war und später weiter westwärts nahe der brasilianischen Inselgruppe „Fernando de Noronha“ lag und auf der Ostseite des südlichen Atlantiks (vor der Küste des heutigen Gambias) von der „Schwabenland“ unterstützt wurde. Während der Aufenthalte an Bord der Versorgungsschiffe fuhren diese meist mehrere Stunden auf den Atlantik hinaus, um so die verbleibende Flugstrecke weiter zu verkürzen. Da Schiffe wie die „Westfalen“ auch gleichzeitig mehrere Dornier „Wale“ aufnehmen konnte, wurden diese auch häufig im Rahmen der Zwischenlandung gewechselt. Auf nordafrikanischer Seite wurde die Post je nach Jahreszeit mit Landflugzeugen oder auch per Flugboot an- und abtransportiert.

Das ausgefeilte Logistiksystem der gesamten Transportkette von Deutschland nach Brasilien ermöglichte ab Februar 1934 eine planmäßige Beförderungsdauer von fünf Tagen, was damals einer Revolution gleichkam. Ab Sommer 1934 wurde der anfänglich alle 14 Tage durchgeführte Kurs zu einer wöchentlichen Verbindung aufgestockt. 

Heute an gestern denken

Wenn wir uns nun mit diesen Eindrücken aus einer anderen Zeit in Menschen wie Olaf Bielenstein zurückversetzen, die den damaligen Luftpostdienst über den Südatlantik mit all ihrem Mut und Entbehrungen ermöglicht haben, dann ist es schon erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit und in welchem Komfort heute täglich viele tausend Tonnen Fracht und Passagiere in nur wenigen Stunden über die Weiten des Südatlantiks befördert werden. 

Vielleicht denkt heute der ein oder andere Kollege oder die andere Kollegin einmal im nächtlichen Cockpit eines modernen Großraumflugzeugs über dem Südatlantik im Schein der Multifunktionsdisplays und Flight Management Computer, beim sonoren Rauschen der Triebwerke und einem frisch gebrühten Kaffee aus der Bordküche an diese tollkühnen Männer in ihren fliegenden Walen, die für all das den Anfang gewagt haben und manchmal leider auch, wie Kapitän Bielenstein, nicht davon zurückkehrten. 

Man kann dann nur wage Bilder vor dem geistigen Auge haben, von „langen Nacht- und Blindflügen“, die von ihren Besatzungen „das Äußerste“ verlangten, wie der Autor eines Buchs über Claude Dornier schreibt, und er fährt fort: „[…], dazu kamen Malariaerkrankungen, Gelbfieber, Quarantäne und Sandstürme. So minutiös der Atlantikverkehr lief, so primitiv war die Unterbringung der Besatzungen auf ihren langen Flügen, spartanisch mit einem Wort, es gab auch keine Ablösungen. Sie flogen über den Atlantik in Shorts, Sporthemd und Turnschuhen, bei sich eine Aktentasche mit Butterbroten und eine Thermosflasche mit Tee oder Kaffee.“

All das ist unsere Luftfahrtgeschichte, und manchmal, wenn man einen alten Grabstein auf dem Frankfurter Hauptfriedhof entdeckt, ist sie mitten unter uns.  
 

Quellen: 

  1. Flug Revue: https://www.flugrevue.de/klassiker/das-beruehmteste-flugboot-seiner-zeit-dornier-wal/
  2. Joachim Wachtel: Claude Dornier – ein Leben für die Luftfahrt, Delius Klasing Ver-lag, 2. Auflage, 2009, S.194 ff.
  3. Luftarchiv.de : https://www.luftarchiv.de/index.htm?/flugzeuge/dornier/do16.htm
  4. Welt.de : https://www.welt.de/geschichte/article242215045/Dorniers-Flugboot-Wal-Dieses-Flugzeug-durfte-nicht-in-Deutschland-gebaut-werden.html
  5. Bureau of Aircraft Accidents Archives (B3A): https://www.baaa-acro.com/crash/crash-dornier-do-j-iif-bos-wal-atlantic-ocean-4-killed