Mitgliedermagazin der Vereinigung Cockpit

Kein Tag wie jeder andere

Ein fiktiver Incident gewährt Einblicke hinter die Kulissen des VC-Notfalltelefons

22.04.2021 Flight Safety von Dieter Spiess gen. Bongard, Hendrik Wille, Jens Piotter | AG Accident Analysis & Prevention

A330-Rollunfall in JFK: Ein fiktiver Incident

Erfreulicherweise ereignen sich Notfälle in unserem Fliegerleben sehr selten. Um betroffenen Kolleginnen und Kollegen in solchen Fällen eine wertvolle Unterstützung zu geben, hat die VC ein Notfalltelefon eingerichtet. Unbemerkt für die Mitglieder wurde hinter den Kulissen ein neuer Betreiber mit neuem Konzept etabliert, und für das Team der Telefonbetreuer wurden neue Checklisten entwickelt, so dass den betroffenen Mitgliedern beste Beratung zuteilwird.

Soweit die Theorie. Aber wie gut funktioniert das Ganze in der Praxis?

Aus diesem Grund weiß ich vor meinem Abflug nach New York JFK, dass ich nach der Landung einen Rollschaden haben werde. Natürlich nur gespielt. Trotzdem ist es ein komisches Gefühl. Eingeweiht sind nur wenige Personen, unter anderem mein First Officer und mein Purser, die die Back-Up-Funktionen einnehmen sollen.

Es ist Sonntagabend. Um 18.21Z gehen wir deutlich vor Schedule on Block. Dabei übersehe ich das Stoppzeichen des Einwinkers und rolle zu weit in die Parkposition. Es entsteht ein Rollschaden: Flieger und Jetty sind beschädigt. So das gespielte Szenario.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Punkt der VC-Event-Checkliste (FRAGE: Hast du sie griffbereit?): Wir schließen unsere Arbeiten ab und lesen alle Checklisten.

Bevor nun das große Chaos ausbrechen würde, entscheide ich mich dazu, kurz die VC-Notfall-Hotline anzurufen, denn auch dort wird man einige Zeit benötigen, um mir einen Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen. Um 18.30Z wähle ich die Nummer +49-69-34872932. Ich werde von einem Sprachmenü empfangen und wähle zunächst zwischen den Sprachen (deutsch oder englisch) und dann weiter zwischen der Art des Vorfalls (Smell oder Accident/Incident) aus. Aus meiner Tätigkeit in der Arbeitsgruppe AAP (Accident Analysis and Prevention) weiß ich, dass diese Auswahl wichtig ist, denn nur dann wird der Call auch an den richtigen Experten weitergeleitet. Eine falsche Auswahl wird zwar irgendwann im System aufgefangen, kostet aber unnötig Zeit! Danach habe ich die Möglichkeit, eine Sprachnachricht aufzusprechen. Die Telefonnummer wird automatisch gespeichert, trotzdem hinterlasse ich sie und natürlich meinen Namen und eine kurze Beschreibung des Vorfalls. Da mein Vorfall nur fiktiv ist, denke ich an fast alles. Bei erhöhtem Stresslevel aufgrund eines echten Unfalls empfehle ich, einen kurzen Stichwortzettel zu machen (z.B. mit der Nummer des First Officers), denn je genauer die Angaben sind („wo ist was wem passiert?“), desto besser kann der Beratende am Telefon seine Handlungen vorbereiten.

Nun beginnt das VC-Notfall-System, einen Ansprechpartner zu suchen. Alle potenziellen Berater und Beraterinnen werden kontaktiert mit der Bitte, den Fall anzunehmen. Das kostet eine gewisse Zeit, aber bei einem realen Vorfall wäre bei mir jetzt die Hölle los. Station, Flughafenvertreter, Unfalluntersucher, Polizei – alle würden sich um mich reißen. Um dies zu simulieren, gehe ich auch erst einmal nicht ans Telefon. In Wirklichkeit habe ich das Flugzeug verlassen, um meine Crew nicht warten zu lassen und denke, dass es besser wäre, nicht bei der US-Immigration zu telefonieren, da die dortigen Beamten für unsere Übung bestimmt kein Verständnis haben würden.

Um 18.53Z erfolgt der erste Anruf des VC-Beraters. Ich lasse ihn noch etwas schmoren (hierfür wäre es im Ernstfall gut, direkt eine alternative Nummer einer zweiten Person anzugeben). Um 19:09Z rufe ich die Nummer zurück, die auf meinem Telefondisplay angegeben wurde. Mein Arbeitsgruppenkollege Hendrik ist noch in einem anderen Gespräch und meldet sich wenige Minuten später zurück. Ich werde kompetent beraten. Dazu gehört, dass ich meine Crew auffordere, ein Gedächtnisprotokoll von ihren Beobachtungen anzufertigen.

Da ich gleich bei der Schilderung des Vorfalls in der Sprachnachricht berichtet hatte, dass ich in JFK einen Rollschaden verursacht habe, hat Hendrik die Zeit genutzt und den amerikanischen Berufsverband kontaktiert. Diese spielen bereitwillig mit. Bereits um 19.39Z klingelt mein Telefon erneut – eine unbekannte Nummer aus den USA. Eine Person der amerikanischen ALPA ist in der Leitung und fragt mich, wie es mir gehe, was sich ereignet habe und welche Unterstützung man mir derzeit zukommen lassen könne. Bei einem realen Vorfall würde sich jetzt bei Interviews (wann immer diese stattfinden) Beratende der jeweiligen Air Line Pilots‘ Association und möglicherweise auch ein juristischer Beistand einfinden, um mich zu unterstützen.

Um 19.59Z fahre ich gerade vor dem Crewhotel vor und wieder klingelt mein Telefon. Diesmal ist der Chefunfalluntersucher der ALPA, Jeff, in der Leitung. Ich kenne Jeff schon von diversen Meetings und er war einer der wenigen, der in diese Übung eingeweiht war. Jeff ist von seinem Hotline-Kollegen erreicht worden und würde sich jetzt um mich kümmern. Der Kreis ist geschlossen.

Da alle Abläufe hervorragend funktioniert haben, brechen wir die Übung an dieser Stelle ab. Ich bin begeistert vom gesamten Ablauf:

  • Das Notfall-Telefon ist einfach und gut zu bedienen.
  • Ich werde in etwas mehr als 20 Minuten von der VC erreicht.
  • In etwas mehr als einer Stunde werde ich vor Ort betreut.

Fazit: Die Übung hat Spaß gemacht und gezeigt, dass unser System funktioniert. Trotzdem hoffe ich, dass ich auch meine letzten Jahre in der Fliegerei verbringen darf, ohne dass ich die VC-Notfallnummer wählen muss.

Ein Berater am VC-Notfalltelefon im Einsatz

Im Rahmen seiner Möglichkeiten war es bisher ein ganz normaler Abend. Um 1930 MEZ erreicht mich eine SMS einer Frankfurter Nummer: "Consultant needed - … please follow up." Es handelt sich um eine Alarmierung des VC-Notfalltelefons. Für weitere Informationen muss ich mich zunächst auf einer Plattform einloggen. Dort kann ich Details des Ereignisses sehen, u.a. eine Abschrift der Audionachricht, die der Anrufer hinterlassen hat, seinen Namen und – wichtig – eine Rückrufnummer. Um Missverständnisse auszuschließen, kann ich mir die Audionachricht auch noch einmal im Original anhören:

Ein Kollege, CPT eines A330, berichtet leicht aufgeregt, es sei beim Einrollen auf die Parkposition zu einer Kollision mit der Fluggastbrücke gekommen. Personen seien nicht zu Schaden gekommen, wohl aber Schaden an Flugzeug und Brücke entstanden. Inzwischen sei das Deboarding abgeschlossen, die Feuerwehr wieder ab-, dafür aber Station, Polizei und NTSB angerückt. Der Kollege bittet um Ratschläge für das weitere Vorgehen und um Rückruf.

Nicht jeder Flugbetrieb, für den unsere Mitglieder tätig sind, bietet seinen Piloten ein umfassendes Support-Netzwerk im Hintergrund, von einer Repräsentanz vor Ort ganz zu schweigen. Leider schafft auch nicht jeder Operator ein vertrauensvolles Klima, in dem betroffene Flugzeugführende jeden Aspekt eines Zwischenfalls mit ihm teilen möchten. Im schlechtesten Fall steht die Kollegin oder der Kollege ganz alleine da. Selbst mit der Unterstützung des eigenen Unternehmens richten sich Ermittlungen u.U. direkt gegen den Fliegenden – international mit unterschiedlichen Ausprägungen, von nur einem Telefonanruf zu unmittelbaren Verhören über direkte Konfrontation mit den Staatsbehörden bis zu „vorsichtshalber mal gleich ins Gefängnis" in Teilen der südlichen Halbkugel.

Das VC-Notfalltelefon soll und kann hier weder den Arbeitgeber noch einen Rechtsbeistand ersetzen, sondern bietet ein zusätzliches und unabhängiges Netz zur Unterstützung. Ich sehe mich am ehesten in der Rolle eines weiteren Crewmember mit zusätzlicher Ausbildung in Unfall-  und Zwischenfalluntersuchung, der gerade nicht dem Stress der Situation ausgesetzt ist und noch die eine oder andere Idee, Erfahrung oder Telefonnummer mitbringt. Im Hintergrund pflegt unsere Arbeitsgruppe ein gutes Netzwerk zu Bereichen, die über das eigentliche Fliegen von Flugzeugen hinausgehen, wie z.B. direkter Kontakt zu Behörden, Vertretern der Flugsicherung oder den militärischen Flugbetrieben. Über die Rückfragen und den Austausch mit den anderen Arbeitsgruppen, wie z.B. der AG MED(ical) und/oder AG SEC(urity) oder auch den Juristen der VC, schließt sich der Kreis des Expertenpools.

Flugzeugführer, die sich beim Notfalltelefon melden, sollen zumindest in der hektischen Phase nur einen Ansprechpartner bei uns benötigen. Damit ist klar, dass man so einen Anruf nicht zwischen Tür und Angel entgegennimmt, sondern ihm in der nächsten Zeit die nötige Priorität einräumen können sollte. Nachdem klar ist, dass ich ausreichend Zeit und Ruhe habe, übernehme ich den Fall von der Hotline und rufe den betroffenen Kollegen zurück. Der Rest des AG-Teams, der das Notfalltelefon betreut, wird sofort benachrichtigt, dass ich den Fall übernommen habe.

Anscheinend, aber auch wenig überraschend, ist der Anrufer aus JFK grade verhindert und ich lande erst einmal auf seiner Mailbox. Ich werde es weiter versuchen.

Bei Zwischenfällen im Ausland sind immer zunächst die lokalen Behörden und Gesetze mit ihren Besonderheiten maßgebend. Zwar gibt es mit dem ICAO Annex 13 einen generellen internationalen Rahmen für die Untersuchung von Incidents und Accidents, bei den lokalen Details wird es aber schnell unübersichtlich. Man denke z.B. allein an die unterschiedliche Rolle der Staatsanwaltschaft in Frankreich und Deutschland. Es ist deshalb üblich, dass sich die Pilotenverbände international gegenseitig unterstützen. Auch unsere Gruppe leistet regelmäßig Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen ausländischer Berufsverbände.  Neben dem Umgang mit den Behörden versuchen wir bei einem fliegerischen Zwischenfall, auch Hinweise zur Beweissicherung, Eigen- und Crewsicherung, u.ä, bis hin zum Vermitteln eines Rechtsbeistands zu geben.

Während ich also weiter versuche, den Kontakt zum Kollegen in JFK herzustellen, melde ich mich parallel schon einmal bei unserer Partnerorganisation in den USA, der US-ALPA. Ich schildere den Vorfall und übermittle auch die Kontaktdaten des Kollegen mit der Bitte, ihn zu kontaktieren. Gerade in den USA sind die Pilotenverbände in dieser Richtung sehr professionell aufgestellt, denn ihnen fällt bei der Untersuchung fliegerischer Zwischenfälle ein wesentliches Mandat, nämlich die Begleitung der Unfall und Zwischenfalluntersuchung, zu. 

Das Team, das diesen Service für die Vereinigung Cockpit darstellt, besteht aus ehrenamtlichen Mitgliedern der Arbeitsgruppe Accident Analysis and Prevention (AAP). Jedes von ihnen arbeitet hauptberuflich in einem Cockpit und so ist es in normalen Zeiten erste Priorität der Gruppe, eine ausreichende Besetzung der Hotline sicherzustellen. Trotzdem kann es allerdings vorkommen, dass kurzzeitig alle verhindert sind bzw. nicht ausreichend Kapazität haben, einen Fall adäquat zu betreuen. Deswegen haben wir den „Umweg" über die neue Hotline eingerichtet, das uns auch eine erste Lageeinschätzung und Austausch im Team erlaubt. Ein weiteres Ziel der Teamzusammensetzung ist es, Expertise aus möglichst vielen Flugbetrieben und Flugzeugmustern bereit zu halten und Zusatzqualifikationen wie Flugunfalluntersucher oder PV-Erfahrung einzubinden.

Apropos Expertise: Um Smoke-and-Smell-Fälle kümmert sich inzwischen eine eigene Gruppe, die AG FHE. Diese Vorfälle haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen, durch die Zuordnung und Bearbeitung durch eine eigene AG werden die Betroffenen ohne große Umwege direkt durch unsere Experten der VC beraten.

Damit ein Anrufer gleich mit den entsprechenden Spezialisten in Kontakt gebracht werden kann, erfolgt bei der Hotline des Notfalltelefons zu Beginn eine Unterscheidung zwischen Smoke-and-Smell- oder anderen Notfällen.

Die Unterstützung der Vereinigung Cockpit ist aber nicht strikt auf Flugunfälle beschränkt, sondern widmet sich gerade in den heutigen turbulenten Zeiten auch anderen „Ausnahmesituationen“, die im Layover, zu Hause oder auf dem Weg zum Dienst auf uns einprasseln.  Auch hierzu bieten verschiedene Stellen Unterstützung an. CISM und ANTI-SKID sind inzwischen bekannt und etabliert. Bei persönlichen, vielleicht auch diffusen Belastungssituationen können die Vertrauensteams der Airlines oder auch – neu – die VC Support-Line helfen. 

Anders als bei Incidents und Accidents fehlt uns hier vielleicht der konkrete Ausgangspunkt und erst recht die Checkliste. Die Situation zu erkennen und sich einen Sparringpartner dazu zu suchen, ist daher wahrscheinlich der schwierigste Schritt. Wir können Euch nur ermutigen, rechtzeitig und ohne Scheu Kontakt aufzunehmen.  Alle diese Services und natürlich auch das Notfalltelefon behandeln Eure Anliegen selbstverständlich vertraulich! 

Im Mitgliederbereich auf der VC Homepage (www.vcockpit.de) finden sich prominente Links zu den verschiedenen Unterstützungsangeboten. Dort findet Ihr auch Event-Checklisten für Accident/Incident sowie für Fume Events - am besten gemeinsam mit der Nummer des Notfalltelefons auf dem Smartphone speichern! Lasst uns über die Homepage oder direkt an aap@vcocpit.de auch gerne Euer Feedback oder Eure Erfahrungen im Hinblick auf Vergangene Notfälle zukommen, damit wir dazulernen und die Qualität der Beratung verbessern können. 

Im zweiten Anlauf erreiche ich endlich den verunfallten CPT in JFK, stimme mich mit ihm ab und vermittle den Kontakt zu den amerikanischen Kollegen.

Diesmal handelte es sich zum Glück aber nur um eine Übung. Der Kollege, ebenfalls im Team des VC-Notfalltelefons, hat einen seiner regulären Flüge genutzt, um aus dem Ausland einen Notruf zu einem fiktiven Rollunfall abzusetzen. Die Alarmkette hat gut funktioniert und bereits nach eineinhalb Stunden meldete sich unsere Partnerorganisation in den USA mit ihrem Team bei ihm.

Allzeit gute Flüge, happy landings und ein sicheres Layover wünscht Euch Eure AG AAP.

(Keine Flugzeuge oder Personen kamen für die Erstellung dieses Artikels zu Schaden.)