Mitgliedermagazin der Vereinigung Cockpit

COVID-19 und das Safety Puzzle – Find the Missing Pieces

Die pandemische Situation schränkt uns weltweit in vielen Bereichen über die Maßen ein, vor allem in der Luftfahrt. Was dabei gerne außer Acht gerät ist, dass sie auch das Bild derer einschränkt, die Safety in der jetzigen Zeit managen.

23.02.2021 Flight Safety von Wilhelm Stolte

© Mel Poole / Unsplash

Denn Safety zu managen bedeutet, viele kleine Teile von Informationen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, aus dem dann Schwachstellen im System und Trends erkennbar werden – ähnlich wie bei einem Puzzle. Fehlen ein paar Teile, kann unser Gehirn dies gut kompensieren und ergänzt das Bild meist mit ziemlich genauen Annahmen. Fehlen aber mehrere Teile, geht die Genauigkeit verloren.

Und genau vor dieser Herausforderung stehen Safety Abteilungen während COVID-19 weltweit, denn es gibt weitaus weniger Daten – oder Puzzleteile – als vor der Pandemie, aus denen das Gesamtbild jetzt zusammengesetzt werden muss. Zum einen liegt das am extrem geringen Flugprogramm, zum anderen trägt aber auch der weltweit über alle Organisationen hinweg seit langem festgestellte Trend zum Under-Reporting bei – und es wäre verwunderlich, wenn es in Deutschland anders wäre. Die Gründe dafür sind vielfältig, das Resultat dessen aber alles andere als hilfreich für unsere Kollegen in den Safety Abteilungen. Denn deren große Aufgabe heißt jetzt „Find the Missing Pieces of the Safety Puzzle“, um sicherstellen zu können, dass das hohe Safety Level der Luftfahrt beibehalten werden kann.

Eine große Problematik dabei ist, dass sich die Bedingungen, unter denen der Flugbetrieb heute stattfindet, im Laufe des letzten Jahres stetig und teilweise enorm verändert haben und neuen Risiken begegnet werden musste und immer noch werden muss. Das Safety Management System einer Airline fängt dies in der Regel über die Entwicklung geeigneter Maßnahmen zur Reduzierung von Risiken auf, so genannter Mitigating Measures. Flugdatenanalyse und Auswertung von Flight Reports spielen dabei eine übergeordnete Rolle – neue Risiken werden darüber identifiziert, Mitigating Measures erarbeitet und dann auf ihre Effektivität hin überprüft und angepasst, wo nötig. Bei einem Regelflugbetrieb eher unproblematisch, in der aktuellen Zeit leider nicht.

Die Safety Abteilungen sind gerade jetzt auf jeden Report angewiesen – ob Voluntary, Confidential oder Mandatory Report – um sich ein gutes Bild von der Effektivität der Maßnahmen zum Erhalt der Flugsicherheit machen zu können. Die Flugdatenanalyse führt dabei nur zu einem Teil der benötigten Puzzleteile, meist basierend auf vorprogrammierten Abweichungen. Was sie nicht zeigen können, ist die große Stärke des Faktor Mensch – das Erkennen von Fehlerpotenzialen, neuer Risiken und latenter Bedingungen oder Schwachstellen im System, die nicht über Flugdaten erfasst werden können. Nicht daraus lernen zu können wäre vor allem in der aktuellen Zeit eine vertane Chance.

Vielleicht ist es hilfreich, zu den Anfängen des Flight Reporting zurückzugehen, um zu verstehen, wie wichtig ein gut ausgeprägtes und gelebtes Reporting ist – denn Under-Reporting wäre zu der damaligen Zeit eine etwas zu nette Umschreibung der vorherrschenden Reporting Culture gewesen. 

Die Schwachstellen im System wurden zu dieser Zeit noch vermehrt reaktiv aufgedeckt – nach Flugunfällen, sozusagen mit Schaufel, Kehrblech und Besen. So auch am 01. Dezember 1974 beim Absturz einer B727 der TWA, die bei schlechten Wetterbedingungen beim Anflug auf Washington D.C. in den weit davor liegenden Mt. Weather einflog (Abb. 1).

Abb. 1 © NTSB (1975). Aircraft Accident Report TWA Boeing 727-231. Report No. NTSB-AAR-75-16.Appendix F, Descent Profile.

Die Unfalluntersuchung hatte ergeben, dass die Flight Crew zu früh auf die Anflughöhe und teilweise darunter gesunken ist. Der Einflug in Mt. Weather fand in einer Höhe von ca. 1.600 ft statt, etwa 30 NM entfernt vom Flughafen. Bedingt durch das hügelige Gelände hätte die Anflughöhe erst ca. 11 NM vom Flughafen entfernt eingenommen werden dürfen – Mt. Weather selbst wird mit einer Höhe von 1720 ft AMSL beziffert. 

Wie zu erwarten, gab es Crew Human Factors, die zum Unfall beigetragen haben – Faktoren, die uns aus dem CRM-Training nur allzu bekannt sind: schlechte Kommunikation und Entscheidungsfindung, schlechtes Teamwork und situatives Bewusstsein. Crew Human Factors sind jedoch selten alleine an Unfällen beteiligt und so gab es auch hier weitere Faktoren, die die Fehler der Crew begünstigten – die latenten Bedingungen und Schwachstellen im System:

  • unklare ATC Verfahren, die zu Missverständnissen zwischen Crew und Controller führten und der FAA seit Jahren bekannt waren
  • Freigabe zum Anflug, während die B727 noch ca. 46 NM vom Flughafen entfernt war – auf einer nicht veröffentlichten Route und ohne klar definierte Angaben zu Minimumhöhen
  • unzureichend dargestellte Höhenbeschränkungen im Anflugprofil.

Und noch etwas wurde herausgefunden – ca. 6 Wochen vorher ist eine United Airlines Crew beim Anflug auf Washington ebenfalls zu früh und unter die Mindesthöhe gesunken. Der Fehler wurde von der Crew erkannt, korrigiert und über das kurz vorher eingeführte Reporting System bei United gemeldet. Alle United Crews wurden daraufhin über die Problematik informiert – aber eben nur sie. 

Eine Lehrstunde für effektives Reporting und eine Erkenntnis, die dann auch zum ersten nationalen Reporting System in den USA geführt hat, damit alle aus Fehlern lernen können - dem ASRS.

COVID-19 versetzt uns ein wenig in die unklaren Bedingungen, die analog im Jahr 1974 vorgeherrscht haben. Unser Vorteil sind existierende Reporting Systeme, die es unseren Safety Abteilungen ermöglichen, die aktuellen latenten Bedingungen und Schwachstellen aus den einzelnen Puzzleteilen unserer Reports sichtbar zu machen – „to help them to find the missing pieces – don’t let COVID-19 become Mt. Weather“.